Erinnerungskultur

Dr. Karin Germerdonk

Von Dr. Karin Germerdonk

17. Juli 2022

Seit einiger Zeit wird immer wieder auf die Notwendigkeit einer funktionierenden Erinnerungskultur hingewiesen. Vor allem im Zusammenhang mit den Opfern der Shoah, also den Opfern der Nationalsozialisten, die verfolgt, ins Exil vertrieben oder inhaftiert und vernichtet wurden. Adolf Hitler hatte sein Imperium für die Dauer von 1000 Jahren angelegt, doch bereits nach 12 Jahren der Diktatur war mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Schluss. Das tausendjährige Reich Geschichte. Das ist mittlerweile 77 Jahre her. Ein langer Zeitraum.

Vor der ersten Generation der Shoah-Opfer leben nicht mehr viele, die meisten sind leider von uns gegangen. Dieser Umstand markiert einen wichtigen Punkt in der Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit, da die unmittelbar betroffenen Zeitzeugen aussterben, die von ihrem Leid berichten und aufklären konnten. Viele Shoah-Opfer haben sich dieser unfassbar großen Aufgabe gestellt, von ihrem unmenschlichen Leid zu berichten und damit eigentlich die Geschichte noch einmal und immer wieder zu durchleben, getragen von dem Bewusstsein, aufzuklären, damit dieses eben sich nicht mehr wiederholt.

Erinnerungskultur im Bereich der Musik ist immer mit Schwierigkeiten verbunden, denn das Charakteristische der Musik ist, dass Musik nur im Erklingen hörbar wird. Im Gegensatz zur Malerei, Bildhauerei, Architektur oder Literatur braucht Musik mehrere „Komponenten“, um erfahrbar zu werden: Eine/n, der ein Werk komponiert, das dann von einem Interpreten vor Zuhörern gespielt wird. Seit dem frühen 20. Jahrhundert hat sich dieses Dreieck Komponist – Werk – Rezipient durch die technische Entwicklung so verändert, dass der Rezipient unabhängig vom Aufführungsort die Musik trotzdem jederzeit wahrnehmen kann. Eine Revolution, die zum Radio, zum Film und zu den Tonträgern führte.

Eins bleibt jedoch immer gleich: Die Erinnerung an einen Komponisten geht sehr gut über die Aufführung seiner Werke. Solange diese Werke gespielt werden, bleibt der Komponist, die Komponistin unvergessen. Sie können sogar zu Denkmälern der Tonkunst werden. Ihr Werk ist sozusagen zeitlos.

Problematisch wird es jedoch, wenn es um Musiker*Innen oder Dirigent*Innen geht. An sie kann sehr gut gedacht werden, wenn Aufnahmen existieren, die abgespielt werden können. Wie aber geht man mit Musiker*Innen oder Dirigent*Innen um, von denen es keine Aufnahmen gibt? Diese harmlose Frage betrifft alle Künstler*Innen, die vor dem 20. Jahrhundert gelebt haben, also die riesengroße Mehrheit der Musiker*Innen und Dirigenten*Innen. Von einigen wichtigen Persönlichkeiten gibt es Geschichten und Bilder, und damit Aufzeichnungen, an die man sich erinnern kann. Auch sie bleiben unvergessen. Oder ein Komponist*In hat genau für eine/n Musiker*In ein Werk geschaffen, es ihr/ihm gewidmet. Auch in diesem Fall bleibt eine Erinnerung an den/die Musiker*In bestehen.

Und dann gibt es eine sehr große Gruppe von Musiker*Innen, bei denen alles fulminant anders ist. Es ist die große Gruppe der Musiker*Innen, die Opfer der Nationalsozialisten wurden, denn diese wurden bewusst, zielgerichtet, gnadenlos und aus Rasse-ideologischen Gründen umgebracht. Die Nazis hielten sie für nicht lebenswert, weil sie jüdischen Glaubens waren, oder weil sie schwul waren, kommunistisch dachten oder politische Gegner waren oder aus anderen Gründen verfolgt wurden. Sie wurden einfach per Gesetz aus der Gesellschaft ausgeschlossen, vertrieben, gejagt, inhaftiert und ermordet. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels wusste, was er tat. Dies belegt ein Zitat, das er am 14. November 1943 in der Zeitschrift „Das Reich“ schrieb:

„Was uns betrifft, so haben wir die Brücken hinter uns abgebrochen. Wir können nicht mehr zurück, aber wir wollen auch nicht zurück. Wir werden als die größten Staatsmänner aller Zeiten in die Geschichte eingehen – oder als ihre größten Verbrecher.“

Wenn heute von so vielen Verantwortlichen Erinnerungskultur angemahnt wird, steht dahinter der Wunsch nach Gerechtigkeit für die Opfer der Shoah. Diese Verantwortung tragen wir Deutsche bis heute. Zu der Erinnerungskultur gehört eine kritische Auseinandersetzung mit dem Verhalten von uns Deutschen unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wie wir Deutsche uns damals an diejenigen erinnern wollten, die in den 12 Jahren Nazidiktatur verfolgt und ermordet wurden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wollten so viele Deutsche die Greueltaten der Nazis vergessen lassen. Niemand wollte das, was geschehen war, so richtig wahrhaben. Dabei wären die Erinnerungen damals noch so frisch gewesen. Die Rede ist jetzt von den Tätern, von den Nazis und von den Mitläufern.

Es ist also die Frage, wie diejenigen, die in diesen 12 Jahren Nazi-Diktatur mehr oderweniger aktiv an der Ausmerzung der jüdischen Menschen und aller anderen Verfolgten beteiligt waren oder dieses zumindest stillschweigend hingenommen haben, wie also diese Menschen sich wieder an diese Personen erinnern sollen, die sie doch 12 lange Jahre aus Rasse-ideologischen Gründen ausgegrenzt haben.

Das Ergebnis wird nun verständlich: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieben viele Namen von Musiker*Innen vergessen. Die Namen wurden während der Nazidiktatur aus den Lexika und anderen Nachschlagewerken eliminiert und damit auch aus den Köpfen der Deutschen. So blieb es lange Jahre lang. Man denke nur an die Opern- und Konzertführer. Die Idee, Nachschlagewerke für Opern, sinfonische Musik und Kammermusik für die große Mehrheit der Bevölkerung zu entwickeln, damit diese Informationen zu den Kompositionen nachlesen können, ist in den 20er Jahren entwickelt worden. Diese Bände, die alle in den 30er Jahren durchweg stramm auf Nazi-Ideologie getrimmt wurden, erfuhren nach dem Zweiten Weltkrieg unwesentliche Änderungen. Man entfernte vielleicht die gröbsten Ausfälle. Aber der größte Teil der Texte blieb bestehen. Nachlesbar, bzw. eben nicht nachlesbar an den Namen von Musiker*Innen, die vor dem Beginn der Nazidiktatur bekannt waren und ihren Platz sowohl in der Gesellschaft als auch in den Nachschlagewerken einnahmen, dieses wurden auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erwähnt. Es gab sie nicht mehr.

In einigen Fällen war es der Initiative von Privatpersonen zu verdanken, die sich aus eigenem Antrieb auf die Suche nach Informationen zu den verschwundenen Musiker*Innen machten, unermüdlich forschten, Kontakte knüpften, Gespräche führten, alles schriftlich festhielten und allmählich vergessene Werke wieder entdeckten und wieder aufführten. Und die 68er Generation rebellierte gegen die Eltern, fragte nach der Nazi-Vergangenheit. Ein allgemeines Umdenken begann, wie man mit dieser Vergangenheit umgehen muss.

Heute möchten wir an die verschwundenen Künstler*Innen gedenken, wir wollen uns erinnern, uns der Vergangenheit stellen. Dazu gehört, dass man der jungen Generation, den Heranwachsenden, das Interesse für diese Zeit vermittelt. Es ist eigentlich ein zutiefst demokratisches Verständnis der Gesellschaft, das dieses Denken befördert. In Zeiten wieder erstarkenden Antisemitismus ein absolutes Muss.

Das „Forum Alma Rosé e.V.“ will mit all seinen Aktivitäten genau dieses erreichen, denn zu einer gut funktionierenden Erinnerungskultur gehört unbedingt Wahrhaftigkeit, die eine Plattform benötigt, also einen Ort, an dem gesellschaftspolitische Entwicklungen, Fragen und Probleme wissenschaftlich aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und hinterfragt werden.

Felix Mendelssohn Bartholdy: © By James Warren Childe

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